Titel
Utopianism for a Dying Planet. Life after Consumerism


Autor(en)
Claeys, Gregory
Erschienen
Anzahl Seiten
584
Preis
€ 65,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Yves Mühlematter, Theologisches Seminar, Universität Zürich

Gregory Claeys ist eine bedeutende Figur in der Utopieforschung. Der Begriff „Utopie“ wurde erstmals 1516 von Thomas More in seinem Buch „Utopia“ als Neologie eingeführt. Dieser Begriff hat seinen Ursprung im Griechischen und bedeutet wörtlich übersetzt „Nicht-Ort“, was oft als Hinweis auf die Unmöglichkeit der Verwirklichung von Utopien verstanden wird. Die Utopieforschung beschäftigt sich mit Utopievorstellungen in drei Hauptgenres, die jeweils sehr unterschiedlich sind: utopische Literatur, Sozialtheorien und intentionale Gemeinschaften.1 Diese Gesamtheit der Utopievorstellungen in diesen Genres wird als „Utopismus“ bezeichnet. In der Utopieforschung werden Utopien jedoch nicht einfach als unerreichbare „Fantasien“ betrachtet, sondern vielmehr als kritische Reflexionen über die Gegenwart derer, die die Utopie formulieren. Diese Kritik zielt darauf ab, bestehende Verhältnisse zu verbessern und eine bessere Welt zu schaffen.2

In seinem umfangreichen Buch präsentiert Claeys auf rund 600 Seiten eine umfassende Geschichte der Utopien und skizziert seine eigene „Utopie“ „für einen sterbenden Planeten“. In elf Kapiteln untersucht Claeys Utopien über mehrere tausend Jahre hinweg und betont dabei drei Hauptpunkte. Erstens stellt er heraus, dass viele Utopien den Überfluss, den Luxus, insbesondere den privaten, anprangern und alternative Modelle spartanischer Lebensweise – wie buchstäblich durch Lykurg in Sparta – oder gemeinschaftlichen Luxus fördern. Dies geht zweitens Hand in Hand mit einer grundlegenden Kritik am Konsumismus. Drittens betonen Utopien die Bedeutung der Gemeinschaft als zentrales Element. Angesichts der drohenden Massenvernichtung der Menschheit sieht Claeys den Utopismus als positive Antwort, explizit nicht als Hoffnung im Sinne Blochs, sondern als Bauplan für eine mögliche radikale Umgestaltung der Gesellschaft. Er lehnt „Hopium“ (S. 509) als Lösung ab und fordert mit Nachdruck ein sofortiges Handeln.

Claeys schlägt daher eine neue Utopie für das 21. Jahrhundert vor, basierend auf den Prinzipien „equality, sociability, and sustainability“ (S. 10), die sofort umgesetzt werden müsse. Sein Buch verfolgt im Wesentlichen drei Ziele: „to defend a theory of ‘realistic’ or realisable utopianism in order to describe the ideal we must aim for; to focus further on two main aspects of this theory – namely, sociability and restraining consumption, especially private luxury – by examining how the utopian tradition has treated these issues; and to make sense of what these imply for environmental degradation now“ (S. 12).

Claeys‘ Werk ist wissenschaftlich präzise und er ist ein Experte auf seinem Gebiet. Er arbeitet heraus, dass der Umgang mit Luxus und Überfluss in Opposition zu Armut ein zentrales Element des Utopismus darstellt. Weiterhin betont er, dass intentionale Gemeinschaften im Kleinen Utopien immer wieder in die Realität umgesetzt haben, womit er die Bedeutung der Gemeinschaft für die Schaffung einer besseren Welt hervorhebt. Dies stellt er dem modernen Konsumverhalten und der Werbeindustrie gegenüber, die Menschen dazu verleitete, nach Luxus und Überfluss zu streben und Milliardäre als Rollenmodelle zu betrachten. Durch seine herausragende, detaillierte und differenzierte Erörterung utopistischer Strömungen legt er das Fundament für den zweiten Teil des Buches, in dem er auf der Grundlage dieser tiefgreifenden Analyse ein dringendes Plädoyer für den Umweltschutz und das Überleben der Menschheit präsentiert. Sein Urteil ist eindeutig: „A catastrophe without parallel in history is unfolding before us, and we stand nearly helpless before it, shocked, dazed, awed, overwhelmed, and usually in denial. Most of what concerns us in our daily lives, intellectuals especially, is now largely irrelevant except where it addresses this crisis.“ (S. 509)

Vor diesem Hintergrund betrachtet er die aus seiner Analyse des Utopismus gewonnenen Erkenntnisse als den Grundstein für eine vielversprechende Zukunft. Claeys schlägt ein Programm vor, das Privateigentum auf höchstens 10 Millionen Dollar beschränkt, zu gemäßigtem Konsum aufruft und in bestimmten Fällen Kontingente vorsieht. Die reichsten Menschen sollen mit hohen Steuern faktisch enteignet werden, und Schlüsselbranchen, insbesondere der Energiesektor, sollen einer internationalen staatlichen Organisation namens ECOCOM unterstellt werden. Ein radikaler Green New Deal soll in allen Lebensbereichen eine nachhaltige Grundlage schaffen, wobei insbesondere die kapitalistische Konsumlogik kritisiert wird. Claeys spricht auch das Bevölkerungswachstum an und schlägt eine Regulierung vor. Städte sollen begrünt und umgestaltet werden, und es sollen Viertel mit starker sozialer Bindung nach dem Vorbild von Fouriers Phalanx und baulich nach Le Corbusiers Idee einer dichten Wohnweise geschaffen werden, die kurze Wege zu lebenswichtigen Infrastrukturen gewährleistet (Kapitel 11).

Gleichzeitig ist sich Claeys bewusst, dass sein Programm auf Widerstand stoßen und dass die bevorstehende Krise für viele Menschen eine ernsthafte psychologische Herausforderung darstellen wird. Basierend auf seiner Analyse der „Counterculture“ – im Wesentlichen die Jugendbewegung der 1960er-Jahre in den USA, deren populäre Ausdruckformen, insbesondere in der Musik und deren (Vor-)Denker – schlägt er ein Modell für Freude und Ablenkung vor, das auch den Konsum von Cannabis, Alkohol und freier Liebe einschließt. Er plädiert für regelmäßige Feste, Spiele, Vergnügungsparks und eine stärkere soziale Nähe, sowie für den Einsatz von Technologie zur Verwirklichung seiner Ideen. Es macht Sinn, dies im O-Ton zu lesen.

„Vast theme parks might enable us to travel in time and space. Music and art festivals, public feasts, cafes, restaurants, sports facilities, theatres, and virtual-reality sensoriums will proliferate, to exercise, entertain, divert, amuse, and promote sociability. Alcohol, cannabis, and other popular stimulants will be available to excite and/or dull the senses as required, subject to cultural constraints. [...] We need this closeness, especially touching and sensory gratification. Where more relaxed attitudes towards sensuality prevail, sexual encounters can be encouraged, and catered for, with free birth control, for we need more pleasure but fewer babies.“ (S. 502)

Claeys Buch ist also auch im Blick zurück eindeutig auf die Zukunft gerichtet, denn „[o]ur candle is flickering. Let us not snuff it out. So go out there – fight back. We can still do this, and we must. We have everything to lose, and everything to gain.“ (S. 513) Es erstaunt, ein so starkes und klares, ja aktivistisches Votum am Ende eines wissenschaftlichen Buchs zu lesen. Ein Buch, das notabene bei einem der renommiertesten Wissenschaftsverlage weltweit veröffentlicht wurde. Während man sich bei der Lektüre fragt, ob Claeys recht hat, ob es an der Zeit ist, die Forschung über eventuell nur vermeintlich wichtige Dinge zu beenden. Wenn der Klimawandel spürbar eingesetzt hat, wie es während der Arbeit an diesem Text, im September, in der Schweiz bei über 30 Grad Celsius in meinem Arbeitszimmer der Fall war, regt Claeys‘ Buch definitiv zum Nachdenken an. Es ist jedoch kein Buch, das den Anspruch erheben kann, eine rein wissenschaftliche Veröffentlichung zu sein, obwohl es den Standards entspricht. Es ist vielmehr ein Manifest von ECOCOM, und man könnte sich durchaus fragen, ob es nicht besser als Netflix-Dokumentation veröffentlicht worden wäre, anstatt bei Princeton University Press. Hätte ich mir die Netflix-Dokumentation angesehen? Mit Sicherheit. Hätte sie mich zum Nachdenken angeregt? Auf jeden Fall. Hätte sie denselben Eindruck hinterlassen wie die Lektüre von Claeys‘ Manifest? Wahrscheinlich nicht. Die Veröffentlichung in Buchform hat zweifellos Wirkung, und es ist bemerkenswert, dass Claeys‘ Botschaft in dieser Form erschienen ist.

Anmerkungen:
1 Lyman T. Sargent, The Three Faces of Utopianism Revisited, Utopian Studies 5, Nr. 1 (1994).
2 Ruth Levitas, Utopia as Method. The Imaginary Reconstitution of Society, Basingstoke 2013, https://doi.org/10.1057/9781137314253.

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